55 Jahre Wahlkontor deutscher Schriftsteller

55 Jahre Wahlkontor deutscher Schriftsteller

von Horst Monsees

Ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen!

Gedichtszeile von Günter Grass – Willy Brandt gewidmet

Autorenbeschimpfung: Als Rolf Hochhuth 1965 im „Spiegel“ die Sozialpolitik der christlich-liberalen Regierungspolitik kritisierte, holte Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) zum Rundumschlag gegen Schriftsteller aus: Diese würden über Dinge sprechen, bei denen sie „von Tuten und Blasen keine Ahnung haben“. Auf dem Wirtschaftstag der Union in Düsseldorf im Juli 1965 polemisierte er und trieb es zum Höhepunkt: „Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.“ Die Attacke zielte wohl auch auf Günter Grass; jedenfalls verstanden das die Karikaturisten so.

© Fritz Wolf

Günter Grass, der sich stets als engagierter Bürger verstand, war vielseitig talentiert – auch als Wahlkämpfer für die Sozialdemokratie, deren Grundüberzeugungen er teilte. Schon 1961 hatte er ein „Loblied auf Willy“ gesungen – Willy Brandt also, die SPD-Größe, in konservativen Kreisen angefeindet und mit bösartigen Unterstellungen bedacht. Bei Grass erntete er tiefe Sympathie und nährte Hoffnungen auf ein anständiges und fortschrittliches Deutschland.

Am 2. April 1965 saß ein aufmerksamer Güter Grass im Berliner Sportpalast und beobachtete eine Kundgebung der SPD, mit der die Partei den Bundeswahlkampf eröffnete. Mit dabei Willy Brandt, Kanzlerkandidat und damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Am nächsten Tag schrieb Grass dem „Lieben Herrn Brandt“: „Legen Sie es mir nicht als Beckmesserei aus, wenn ich kritisch auf die verschwimmenden Satz-Enden in Ihrer Rede hinweise. Das erste Viertel der Rede, also der Anlauf, entwickelte sich zu stockend und erweckte bei den Zuhörern das fatale Gefühl, der Redner habe gegen Lustlosigkeit zu kämpfen.“ Fortan und noch stärker als 1961 pflegte er die „politische Dreinrede“. Seiner Initiative war es maßgeblich zu verdanken, dass die SPD am 15. Juni 1965 im Schimmelpfeng-Haus an der Westseite des Berliner Breitscheidplatzes das „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“ gründete. So hieß es damals, aber es waren durchaus auch Frauen dabei, Marianne Eichholz beispielsweise und Gudrun Ensslin. Es handelte sich um 20 jüngere Schriftsteller/innen, die im Literaturbetrieb zunehmend auf sich aufmerksam machten. Ihre politische Aufgabe: Texte redigieren, Reden entwerfen, Wahlkampfslogans erfinden – „Warum denn gleich auswandern: Wählen Sie doch erst mal SPD“.

Willy Brandt, aber auch Helmut Schmidt und Karl Schiller ließen sich gerne auf die Dienste und Diskussionen der Kulturschaffenden ein; andere führende Sozialdemokraten misstrauten freilich den Ideen der Intellektuellen. Grass selbst beteiligte sich nicht an der Schreibtischarbeit, er reiste über Wochen und Monate durch die Bundesrepublik und machte SPD-Wahlkampf – auf Plätzen und in Hallen, nicht selten vor einem Publikum, das 1000 Köpfe plus zählte. Noch viel mehr Menschen warteten am 15. September in der Münsterlandhalle zu Cloppenburg, aber Sympathisanten waren sie mehrheitlich nicht. Es wurde gepöbelt und plakatiert „Heute ist kein Schweinemarkt“, so dass die Polizei einschreiten musste. Grass schätzte Widersprüche und Provokation, sie ließen ihn zu Hochform auflaufen.

1965, in seinem parteipolitischen Jahr, wurde Grass auch literarisch hoch dekoriert, er erhielt den Georg-Büchner-Preis. Seine Dankesrede wurde ebenso zu einer verspäteten Wahlrede: „Das also war es: Zweiundfünfzigmal in volle Säle gepustet, damit sich der Staub nicht legte. Die Landkarte abgesteckt und das Vaterland an die Brust genommen.“ Das musste wohl so sein, denn nach der Wahl zum 5. Deutschen Bundestag konnte die SPD ihren Stimmenanteil zwar erhöhen, aber verfehlte ihr Ziel, stärkste Fraktion zu werden. Grass verarbeitete das auf seine Art, indem er den Sozialdemokraten weiterhalf. In einem Brief an Willy Brandt betont er zum Wahlkontor: „Es mag sein, dass diese unabhängige Spielart der Parteinahme während dieses Wahlkampfes noch auf starken Widerstand, auch innerhalb der SPD, gestoßen ist. Dennoch meine ich, in vier Jahren wird solcher Initiative schon das Selbstverständliche anhaften.“ So sollte es kommen, mit der Sozialdemokratischen Wählerinitiative mit Günter Grass mittendrin und einem triumphierenden Willy Brandt. Aber das ist eine andere Geschichte…

Und heute? Ist „Wahlkontor reloaded“ ein Produkt der Gegenwart? Eine Parteinahme von Literatinnen und Literaten für die SPD oder andere Parteien – möglich, sinnvoll und zukunftsweisend? Eine spannende Frage – schauen Sie sich dazu eine besonders spannende Veranstaltung an, die hier per Live-Stream am 16. Juni 2020 um 19.30 Uhr übertragen wurde und auch nachträglich abgespielt werden kann.




Das Audio im Hintergrund hören Sie mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen.